Riga boomt im Jugendstil
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Riga ist die Königin des Jugendstils. Aufstieg und Wachstum der Stadt erfolgten in dieser Epoche zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Etwa 800 Jugendstilbauten sind im Stadtzentrum erhalten und dokumentieren eine ganz eigene lettische Prägung.
Riga, die Perle des Baltikums, die Perle des Jugendstils, das Venedig des Ostens … Wir finden, die superlativen Zuschreibungen der einschlägigen Reiseblogs und Reiseführer gehen absolut in Ordnung. Denn: Wir lieben Riga! Diese quirlige, junge und attraktive Stadt. Und so viel (alten) Jugendstil auf relativ kleiner Fläche gibt es vermutlich auch nirgendwo sonst. In Wien oder Paris jedenfalls nicht.
Etwa 800 Jugenstilbauten sind im Stadtzentrum von Riga erhalten. Die berühmtesten Exemplare stehen sogar auf wenigen hundert Metern zusammen – aufgereiht wie die berühmte Perlenschnur entlang der Alberta iela (Straße), der Elisabet iela und der Strelnieku iela in der Neustadt.
Vom Domplatz in der Altstadt aus brauchen wir etwa eine gemütliche Viertelstunde zu Fuß bis zum Dorado des Jugendstils. Stracks durch den attraktiven Kronvald-Park geschlendert und über den verkehrsreichen Kalpaka Boulevard gehuscht. Ab dann richtet sich der Blick weg von der Straße nur noch nach oben. Kopf in den Nacken werden jetzt Fassaden bestaunt.
In der Alberta iela scheinen sich die Architekten einen Wettbewerb der Fantasie geliefert zu haben: Medusenköpfe mit zum Schrei geöffneten Mündern, majestätische Löwen, Drachen und sonstige Fabelwesen prangen an den Hausfassaden, florale Ornamente schmiegen sich um geschwungene Balustraden, Türmchen, Giebel und schmiedeeiserne Balkongeländer.
Architekturdenkmäler am laufenden Meter
Entlang der knapp 300 Meter langen Alberta iela haben die Jugendstil-Stararchitekten Michael Eisenstein, der Vater des berühmten Filmregisseurs Sergey Eisenstein, Paul Mandelštams und Konstantīns Pēkšēns zusammen gleich acht Häuser geschaffen, die als Architekturdenkmäler und Welterbe in die Annalen eingegangen sind: die Hausnummern 2, 2a, 4, 6, 8, 11, 12 und 13. Eine Straßenkatze schert diese architektonische Prominenz wenig. Sie hat sich in der Nr. 2a auf den Sims eines Parterrefensters zusammengerollt, bewacht von zwei steinernen Sphinxen am Eingang, die sich der erste Besitzer Vladimir Bogoslavsky 1906 von Architekt Michael Eisenstein vor die Haustüre setzen ließ.
Bauboom zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Die Entwicklung des Jugendstils in Riga fiel mit einem beispiellosen Boom des Stadtwachstums zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen und erklärt, weshalb fast 40 Prozent des Gebäudebestands aus dieser Epoche stammen. Die Einwohnerzahl der reichen Hansestadt explodierte regelrecht, Wohnraum wurde gebraucht – und im Wesentlichen von 1901 bis 1908 auch geschaffen. Riga erhielt in dieser kurzen Zeitspanne sein heutiges Stadtbild.
Es war eine neue Zeit. Am schwulstigen Historismus des 19. Jahrhunderts mit seinen überladenen Fassaden hatten sich die Menschen damals sattgesehen. Nach dem neuen Ideal sollten Kunst und Alltag verschmelzen, Gebäude und Wohnkultur grundlegend künstlerisch neu gestaltet werden. Und auch der Reichtum sollte standesgemäß zur Schau gestellt werden. Figuren von prächtigen Pfauen an der Hauswand waren das Symbol dafür. Niedliche Eichhörnchen wiederum verkörperten den Fleiß. Es sind nur zwei Beispiele steingewordener Allegorien.
Wir laufen und staunen. Auch in der Umgebung der Alberta iela begeistern uns prächtige Beispiele der Jugendstilarchitektur - reich geschmückt mit figuralen Skulpturen, floralen Schmiedearbeiten an Balkonen, die von Menschen, Gottheiten oder Säulen gestützt werden.
Starobjekte Nr. 10a und 10b
Zwei beeindruckende Bauten des frühen Jugendstils sind die Gebäude in der Elisabet iela Nr. 10a und 10b. Konstantīns Pēkšēns hat die Nr. 10a ursprünglich entworfen. Er war einer der ersten akademisch ausgebildeten lettischen Architekten, der die 1869 eröffnete Fakultät für Baukunst im Rigaeer Polytechnischen Institut besucht hatte. Etwa 250 mehrgeschossige Gebäude in der Stadt wurden allein nach seinen Plänen errichtet.
Als 1903 die Bauarbeiten für das Haus Nr.10a begannen, übernahm allerdings Deko-Meister Michael Eisenstein die Gestaltung der Fassade (Balkon ganz oben). Er ist auch für die ungewöhnlich prunkvolle und farbenfrohe Gestaltung der berühmten Hausnummer 10b zuständig mit der auffälligen Schlüsselloch-Öffnung im Obergeschoss. Bis ins Detail sind die Kompositionen von Masken, Pfauen, Skulpturköpfen und geometrischen Figuren in der Fassadenkrone ausgearbeitet und die oberen Stockwerke aufwändig mit blauen Keramikplättchen verkleidet.
Der lettische Weg
Der Rigaer Baumboom und der Ehrgeiz lokaler Architekten brachte eine eigene lettische Prägung des Jugendstils hervor. Genau genommen entwickelten sich sogar drei Stilrichtungen, die auch Laien wie wir beim Streifzug durch die Neustadt – und selbst in der kurzen Alberata iela gut unterscheiden können: der dekorative Stil, der lotrechte, senkrechte und der national-romantische Stil.
Der dekorative Stil ist auf den ersten Blick an seinen überbordenden Verzierungen zu erkennen. Geschwungene Linien ziehen sich in vollendeter Symmetrie über die Fassaden, die zusätzlich mit geometrische Figuren, stilisierten Blumenornamenten, Masken und Skulpturen geschmückt sind. In der Anfangsphase des neuen Stils waren diese kunstvollen Kompositionen sehr innovativ. Zum Charakteristikum der Rigaer Jugendstilarchitektur wurde nach 1906 allerdings der lotrechte Stil. Sprich:
vertikale Kompositionen mit stark gegliederten, mehrgeschossigen Erkerfenstern, aufrechten Zierleisten und Ornamenten.
Der national-romantische Stil wiederum spiegelt schließlich die Ambitionen der Rigaer Architekten wider, ihre eigene lettische Architektur zu schaffen. Sie verwendeten natürliche Baumaterialien, griffen ethnografische Motive der Volkskunst auf und orientierten sich an einheimischer Architektur mit spitzen Giebeln und Türmchen. Jedes dritte bis vierte Jugendstilgebäude in Riga kann der Nationalromantik zugerechnet werden. Prominente Vertreter waren Konstantīns Pēkšēns (ganz unten Alberta iela 12) oder Eižens Laube (unten Alberta iela 11).
Kunstvolles Innenleben
Wir sind auf den Geschmack gekommen. Nach den Außenstudien wollen wir nun ins Innenleben des Jugendstils blicken. Gelegenheit bietet das Rigaer Jugendstilzentrum in der Alberta iela 12. Passenderweise ist es genau in der Ergeschoss-Wohnung untergebracht, in der bis 1907 Stararchitekt Konstantīns Pēkšēns gelebt und gearbeitet hat. Staunend wendeln wir uns durch das Treppenhaus hinauf und hinunter und treten schließlich durch die Wohnungstür in die Vergangenheit.
Der repräsentative Wohnraum ist mit Blumenmustern geschmückt. Wir wagen es nicht, die eleganten Möbel aus dunklem Holz zu streifen, oder gar das feine Porzellan oder die schweren Weingläser im prachtvollen Kaminzimmer zu berühren. Geschweige denn das feine Essgeschirr auf dem festlich gedeckten Esstisch. Das gesamte Interieur aus dem Jahr 1903, inklusive Wand- und Deckenbemalungen, bleiverglasten Fenstern, Kleidungsstücken, Kunstwerken und Alltagsgegenständen wurde erforscht, rekonstruiert, erneuert. Bis hin zu den Türklinken und Fenstergriffen fühlen wir uns in die Anfangszeit des 20. Jahrhunderts versetzt. Wir gehen nicht mehr, sondern wandeln durch die Räume – und können uns nicht sattsehen.
Unsere Zeitreise endet abrupt - im Straßenverkehr vor der Haustüre. Voller Eindrücke und Bilder spazieren wir durch den Park zurück in die Altstadt. Ein letztes Jugendstil-Highlight haben wir uns noch vorgenommen. In der Smilsu iela 2, nahe des Pulversturms, stützt Rigas schönste Frau leichthändig einen Balkon.
Die Rigaer haben diese Skulptur bei einem Wettbewerb zur Schönheitskönigin gekürt. Das will was heißen. Wer durch Rigas Straßen streift, erkennt warum: Es gibt wohl keine Stadt, in der ähnlich viele offenherzige Frauen an Hauswänden zu sehen sind.
In Riga findest du aber nicht nur Jugendstil, sondern auch den spannenden, jungen Möbelhersteller Mint Furniture. Wir haben einige Produkte für dich ausgesucht.