Kulturhauptstadt 2024: Europa blickt nach Tartu
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Tartu steht 2024 im internationalen Rampenlicht: Neben Bodø in Norwegen und Bad Ischl-Salzkammergut ist Estlands zweitgrößte Stadt Europäische Kulturhauptstadt. Eine gute Wahl: Seit jeher glänzt die Studentenstadt mit einer quicklebendigen Kulturszene.
Auf Anhieb ist es gar nicht so einfach, im ebenso umfangreichen wie bunten Programm zum Kulturjahr 2024 den Überblick zu behalten. Doch eigentlich ist es ganz egal, wann man sich nach Tartu aufmacht - Highlights gibt's fast jeden Tag. In vier Hauptlinien haben die Organisatoren das Programm sortiert: "Tartu with Earth", "Tartu with Humanity", "Tartu with Europe" und "Tartu with Universe".
Los ging's Ende Januar: Mit einer spektakulären Lichtshow und Live-Musik auf dem zentralen Platz vor dem Rathaus ging Tartu als Europäische Kulturhauptstadt 2024 an den Start. Es folgten Konzerte, Kunstausstellungen, Theateraufführungen und literarische Events, die einen Vorgeschmack gaben auf den heißen Kultursommer und -herbst.
Gleich im Mai machte Tartu seinem Ruf als „Stadt der ersten Liebe“ alle Ehre: Vor dem Rathaus, wo auch die Bronzeskulptur "Küssende Studenten", das Wahrzeichen Tartus steht, trafen sich Tausende Menschen zum Massenküssen. "Kissing Tartu" wurde musikalisch begleitet von live gesungenen Eurovision-Song-Contest-Liedern, mit denen Estland beim europäischen Gesangswettbewerb in den vergangenen Jahren vertreten war.
Tartu ist mit ihren 100.000 Einwohnern keine große Stadt – mit einem der vielen E-Bikes, die im Kulturjahr überall zum Verleih bereitstehen, lässt sich die Innenstadt in wenigen Minuten durchqueren. Und selbst das großartige Eesti Rahva Muuseum, das Estnische Nationalmuseum, ist vom Rathausplatz aus in einem gemütlichen halbstündigen Spaziergang den Hügel hinauf erreichbar. Ein Besuch gehört für Estland-Besucher zum Pflichtprogramm. Das 2016 eröffnete Museum steht auf dem Gelände eines ehemaligen sowjetischen Militärflughafens und erinnert an einen gewaltigen Flugzeug-Hangar.
Lichte, hohe Räume, Glasfassaden, ein einladendes Museumscafé und natürlich eine ungemein sehenswerte, interaktive Ausstellung in elf Sprachen - das Eesti Rahva Muuseum ist mit 6.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche das größte estnische Museum und ein absolutes Highlight für Tartu-Touristen. Nirgendwo sonst in Estland kann man so tief in die Geschichte und Kultur des Landes eintauchen.
Als Universitätsstadt mit jahrhundertelanger Tradition ist Tartu seit jeher geistiger und kultureller Brennpunkt Estlands, 2015 wurde Tartu als Internationale Literaturstadt Teil des UNESCO-Netzwerkes der weltweiten Kreativstädte. Die Wahl zur Europäischen Kulturhauptstadt lag also auf der Hand.
Nicht nur Kulturfans kommen in Tartu voll auf ihre Kosten - der Kalender ist vollgepackt mit Konzerten und Festivals, Symposien und Straßenfesten, Installationen und Ausstellungen, Führungen, Konferenzen und Club-Events. Es gibt Lauschwanderungen, romantische Kanufahrten bei Fackelschein und ein Klangcamp. Mitte Mai gab es das Event „Nackte Wahrheit“, wo in mobilen Saunen Gesprächsrunden angeboten wurden.
Anfang Juli jubelte das Publikum aus aller Welt der kanadischen Rocklegende Bryan Adams beim Open-Air-Konzert in der riesigen Song-Arena von Tartu zu. Und auch das ist Tartu 2024: Eine knappe Woche später feierten die Menschen beim Säkna Scheunenfest. Das Dorffest inmitten der Wälder von Mooste genießt einen legendären Ruf.
Das Jahr als Europäische Kulturhauptstadt ist längst nicht zu Ende. Vom 12. bis 18. August wird in der Stadt "Tartu Pride" gefeiert - 2024 ist das erste Jahr, in dem die gleichgeschlechtliche Ehe in Estland legal ist. Vom 22. bis 25. August stellen bei der "Simple Session" im Viertel Comb Factory die weltbesten BMX-Fahrer und Skateboarder ihr Können unter Beweis. Ins Veranstaltungszentrum im Süden Tartus locken außerdem Livekonzerte, Partys, Filmvorführungen, Workshops, Ausstellungen, Pop-up-Events und Street Jams.
Am selben Wochenende Ende August lohnt eine Fahrt ins eine Stunde südlich gelegene Kubija zu einem nächtlichem Volkstanzfestival Uma Pido: Die Veranstaltung vereint Folklore, Theater, Licht und Natur, es treten Schauspieler und Tänzer aus Saaremaa, Virumaa, Harjumaa, Võrumaa und Setomaa auf. Im September kommen Kinofans beim Tartu Love Film Festival auf ihre Kosten. Es werden Liebesfilmen aus aller Welt gezeigt und Workshops zum Thema Filmproduktion angeboten.
Pulsierendes Zentrum und Schauplatz zahlreicher Veranstaltungen ist der Rathausplatz im Herzen Tartus. Eingerahmt von historischen Gebäuden, Cafés und Restaurants verströmt der Platz bei Sonnenschein fast schon italienisches Flair. Fotomotiv Nummer eins von Tartu ist seit 1998 natürlich der Springbrunnen mit dem küssenden Studentenpaar vor dem Rathaus. Wer abends die Stadt erkundet, kann täglich um 18 Uhr dem Glockenspiel vom Rathausturm lauschen und bei der Gelegenheit das kleine, windschiefe Kunstmuseum am unteren Ende des Rathausplatzes fotografieren: Angeblich hat das Gebäude eine größere Neigung als der Schiefe Turm von Pisa.
Wenige Meter weiter unten, am Fluss Emajögi, wird im Sommer gebadet und gepaddelt, Ausflugsboote schippern auf und ab, in den Parks treffen sich die Menschen zum Picknick und abends gehört das Ufer den Studierenden, die in den Bars und Kneipen am Fluss feiern.
Keinesfalls versäumen sollten Tartu-Besucher einen Abstecher hinauf zum Toomemägi, dem Domberg. Vom Turm der imposanten Ruine der einst dreischiffigen, bereits 1624 zerstörten Domkirche hat man einen grandiosen Blick über die Stadt. Der Chor der Kirche wurde später zur Bibliothek, heute beherbergt er das Historische Museum der Universität Tartu. Und wo früher die mächtigen Befestigungsanlagen die Stadt schützten, lädt heute ein schöner Landschaftspark zum Spaziergang ein.
Ein weiterer Hotspot des Kulturjahrs 2024 ist der Kreativcampus Aparaaditehas, eine ehemalige Fabrikanlage, die zur Kulturfabrik umgestaltet wurde und heute einer der aufregendsten Treffpunkte der Studentenstadt ist. Neben trendigen Kunst- und Designläden arbeiten hier Künstler und Kreative in Werkstätten, es werden Workshops, Konzerte und Feste gegeben. Natürlich gibt's hier gutes Essen und an den Wänden und auf dem Asphalt kann man Straßen- und Graffitikunst bewundern. Apropos Handwerk: Tartu ist auch die Heimat des Möbelherstellers Tarmeko, der seit mehr als 75 Jahren Maßstäbe setzt beim Bau von Möbeln mit gebogenem Sperrholz.
Tartu feiert das ganze Jahr - das fabelhafte, bunte, vielfältige Kulturprogramm im Festivaljahr 2024 gibt es auf tartu2024.ee. Die Veranstaltungen reichen übrigens weit über die Stadtgrenzen hinaus: Auch in der Stadt Viljandi, am Ufer des riesigen Peipussees an der Grenze zu Russland und an vielen anderen Orten in Süd-Estland wird die Europäische Kulturhauptstadt 2024 gefeiert. Und selbst wenn am 30. November 2024 um 24 Uhr offiziell der Vorhang fällt, hören die Esten nicht auf zu feiern: Bis ins Jahr 2025 hinein gibt es Ausstellungen, Konzerte und Festivals zum Kulturjahr.
Text: Eckart Baier